von Ruth Leiserowitz
Untersucht man, woher die Zuwanderer kamen, stellt sich überraschenderweise heraus, daß es sich vorwiegend um Kurzstreckenmigration handelte. Eine große Anzahl von Juden, die im 19. Jh. naturalisiert wurden (Naturalisierung nannte man damals in Preußen das Einbürgerungsverfahren), stammte aus der direkten Grenzregion. Das Geflecht der Beziehungen zwischen den Juden zu beiden Seiten der Grenze ist bisher wenig erforscht worden. Rege Kontakte gab es auf alle Fälle, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Dazu zählen auch die häufigen Märkte in der Region (beiderseits der Grenze) und die vielen Aufenthalte jüdischer Kaufleute in Tilsit. Neben dieser Form des grenzübergreifenden Handels zielt eine weitere Fragestellung auf die grenzüberschreitende Wirtschaftsmigration – sowohl die legale Zuwanderung wie auch die unerlaubten Aufenthalte – und die Restriktionen der preußischen Behörden darauf. Daneben darf auch der Schmuggel als Alltagstopos nicht unerwähnt bleiben.

Schaut man über die Grenze, in die litauischen Stetl jener Zeit, fällt auf, daß der ökonomische Niedergang und Hungersnöte die Einwohnerschaft zur Suche nach Alternativen zwangen. Zwischen 1867 und 1871 gab es eine bedeutende Emigration aus der Stadt, vor allem nach Deutschland, aber auch in die Vereinigten Staaten. (Später wurde die Situation noch durch politische Faktoren, vor allem die Pogrome rasant verschärft.)

Bei Betrachtung der Situation im Herkunftsort fällt auf, daß an diesen Orten nicht nur die Zukunft in Preußen anvisiert, sondern generell eine Entscheidung zur Auswanderung getroffen wurde. Es bewahrheitete sich die banale Feststellung, daß wer an der Grenze lebte, auch hinüber wollte. Hier fanden Entscheidungen statt, die stark von finanziellen Situationen geprägt wurden und immer rationale Schritte darstellten. Oft gingen Familienzweige sehr verschiedene Wege. Generell vergrößerten sich die Wanderungsdistanzen. Einige reisten nach Amerika, andere gingen nach Palästina und die Vermögendsten siedelten sich in Ostpreußen an.

Konrad Fuchs stellt zutreffend fest: „Der wirtschaftlichen Gesamtlage in Ost- und Westpreußen entsprechend, engagierte sich die dortige jüdische Bevölkerung zu wesentlichen Teilen im Handel und Gewerbe der Kleinstädte, sieht man von den Kommunen Königsberg, Danzig und Elbing einmal ab.“ (Konrad Fuchs, „Jüdisches Wirtschaftsleben in Ost-und Westpreußen“ in :Brocke, Michael, Heitmann, Margret, Lordick, Harald (Hrsg.): Zur
Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreussen.Hildesheim 2000)

Das wirtschaftliche Für und Wider bei der Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten in den Augen des preußischen Staates gibt ein Statement aus der Naturalisierungsakte des Meyer Israel Liebschütz aus Neustadt von 1844 recht treffend wieder:

„Wenn auch durch die neuerrichtete Zoll… in Neustadt sowie durch die Erbauung der …. Chausee der Handel des Marktflecken Heydekrug- welcher letzterer nicht unmittelbar durch die Chaussee berührt werden dürfte, einen erheblichen Aufschwung erhalten dürfte, so würde doch dem erwähnten Bedürfnisse durch Ansiedlung inländischer christlicher und jüdischer Kaufleute in Heydekrug schnell und vollständig abgeholfen werden, da dieser Ort in der Mitte zwischen zwei nicht unbedeutenden Handelsstädten Tilse und Memel gelegen und an Handeltreibenden hier kein Mangel ist. Die Vortheile aber, welche etwa dem diesseitigen Staate aus den Verbindungen des p.Israel mit jenseitigen Kaufleuten erwachsen können, werden durch die eben damit zusammenhängenden Nachteile mindestens aufgewogen. Denn es ist erfahrungsmäßig daß die sich hier ansiedelnden russischen und polnischen Juden in Menge ihrer den Hausier- und Schmuggel- Handel treibenden und für das hiesige Land anerkannten schädlichen Religionsverwandten aus dem Nachbarstaate herbeizuziehen pflegen und dieselben nur zu gern gegen die zur Abwehr solcher Eindringlinge getroffenen Polizei Maßregeln schützen.“

Juden, die einwanderten, mußten – gerade auf Grund der herrschenden Stereotype – komplexe und komplizierte Anpassungsleistungen erbringen, um die Bedingungen einer zweiten Sozialisation zu erfüllen. Sie unterlagen der Notwendigkeit, neue Lebenskonzepte zu erlernen und anzuwenden. Dazu zählten beispielsweise die Akzeptanz anderer Autoritätsprinzipien oder Instanzen sozialer Kontrolle.

Die Entscheidung zur Migration implizierte auch Erwartungen über die neue Rolle, die die Ankömmlinge in der neuen Umgebung übernehmen wollten. Viele von ihnen kamen als junges Paar nach Preußen und brachten ihre Eltern mit. Die Kinder wurden schon in Preußen geboren, die Enkel wußten nur noch wenig über die Herkunft der Familie jenseits der Grenze.

In westlicher Orientierung war die Grenzregion für ihre Bewohner attraktiv, da sie positive Perspektiven versprach. Die „kurze“ Lösung (kurz im Sinne der zu überwindenden Distanz gesehen, unterschwellig aber auch im Sinne des sehr beschränkten Zeitraums begriffen), die gut kalkulierbar erschien, bestand in dem Wechsel nach Preußen bzw. in das Deutsche Reich. Die Gruppe der Zuwanderer, die hier ins Blickfeld rückt, sah in ihrem Grenzübertritt eine selbstgewählte Chance, eine positive Lösung . Die Kinder der Migranten (die Angehörigen der zweiten Generation) wurden zu echten deutschen Staatsbürgern. Ihre starke Identifikation führte in ihrer Lebensmitte, nach 1933, dazu, die Bedrohlichkeit der politischen Situation zu unterschätzen. Aus diesem Grund versäumten sie, rechtzeitig ihre Flucht zu organisieren. Plötzlich wurde aus der positiven Grenzerfahrung die höchst negative der Ausgrenzung Ihre Kinder (die Angehörigen der dritten Generation) erlebten die Phase ihres Erwachsenenwerdens, sofern sich Flucht noch bewerkstelligen ließ, schon im Ausland. In ihrer Erinnerung versucht die dritte Generation, die ausgesprochen deutschkulturelle Orientierung von Eltern und auch Großeltern zu verorten, wobei sich ihnen viele ungeklärte Fragen stellen.

Auf den ersten Blick wirkt die Migration im 19.Jh. wie eine Erfolgsstory. Die Wende kam sehr rasch – ab 1885. Dann begann die preußische Regierung, Juden mit russischer Staatsbürgerschaft auszuweisen, auch wenn sie schon lange in Preußen lebten. Ein Bleiberecht konnte sich oft nur erkaufen, wer wirtschaftlich erfolgreich war und im Ort Einfluß besaß.

Nach welchen Erwägungen die Behörden vorgingen, zeigt der Auszug aus einer Akte zur Naturalisierung eines Herrn Rogalsky:

„Der Familie Rogalsky, die die russische Staatsangehörigkeit besass und am 17. November 1873 hier zuzog, ist im September 1886 die Aufenthaltsgenehmigung ohne Einschränkung gewährt worden.

Wenn Mitglieder der Familie Rogalski auch noch als Ausländer betrachtet werden , so sind sie als solche doch nicht mehr tatsächlich zu behandeln. Die Ausweisung ist nicht mehr durchzuführen und im Falle der Verarmung würde die Gemeinde aufkommen müssen. Der Gesuchsteller bezieht ein Gehalt von cr.1200 Mark und hat ein Vermögen von cr. 18.000 Mark, er besitzt ein Materialwarengeschäft, verbunden mit einer Gastwirtschaft und ist somit in der Lage, seine Mutter und seine 5 unverheirateten Schwestern mit zu unterhalten. Das würde aber aufhören, wenn der Antragsteller von hier verzöge. Es liegt deshalb im diesseitigen Interesse ihn hier zu halten…(…)“

Nur wenige Juden konnten mit derartigem Kapital aufwarten. Die meisten ohne Staatsbürgerschaft wurden wieder zurück über die Grenze geschickt. Einige schafften es, nach Amerika oder Afrika auszuwandern.

Wie verlief ihr weiteres Schicksal? Blieben sie in Litauen? Wanderten sie aus?

Für meine Forschungsarbeit suche ich Dokumente über litauische Juden, die aus Ostpreußen ausgewiesen wurden sowie zu ihrem weiteren Lebensweg.

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