zeitgenössische Berichte

von dem Landarzt Arthur Kittel

Heydekrug Russ
Kursiu mare 1995

Zähe Tatkraft und starker Unternehmungsgeist vereinte die jüdischen, russischen Holzhändler. Sie kauften staatliche und private Waldungen und ermöglichten bei der großen Anspruchslosigkeit der Arbeiter die Überführung der gewaltigen Holzmassen aus den hundert Meilen entfernten großen russischen Forsten. So schwamm das Holz stromabwärts, mitunter von Hochwasser und Stürmen zerzaust, nach Ruß.
Hier herrschte in den Sommer- und Herbstmonaten ein reges Leben und treiben. Die Ströme waren mit Triften bedeckt. Abends sangen am Wachfeuer die Flößer zur Harmonika ihre melancholischen Lieder. Am Tage brachten zahlreiche Arbeiter aus Ruß und den Nachbardörfern gegen gute Bezahlung und reichliche Schnapsspenden die eichenen Stäbe und Stämme das Wasser durchwatend ans Land zum Trocknen, um sie später in Reisekähnen nach Memel für England zu verladen. Dort wurde aus den Eichenstämmen Getäfel für Schiffskajüten, Zimmer und kostbare Möbel angefertigt. Die Stäbe verarbeitete man zu Fässern, in denen sie vielleicht nach vielen Jahren als Porter-, Rotwein- und Portweinfässer zurückkehrten. Großkaufleute aus Rußland wohnten in Ruß in den zwei jüdischen Gasthäusern, mit den Maklern und Schaffern, wenn das Holz verkauft war. Und die Memeler Kaufleute kamen zu ihren vier Spediteuren, um die Verträge abzuschließen. Bei ihnen nahmen sie oft Wohnung und besuchten gern unser Gasthaus. Die jüdischen Händler ließen für sich und ihre Familie Kleidungs- und Wäschestücke anfertigen und kauften viele Wirtschaftsgegenstände ein. Meinen ärztlichen Rat nahmen sie oft in Anspruch. Bei ernsteren Erkrankungen fuhren sie zu zwei Professoren in Königsberg. Mit ihren Verordnungen suchten sie mich dann wieder auf und befolgten die von mir ausgewählten. Manchmal wurde ich mit dem Spediteur in eine Schafferne eingeladen, wobei uns der Schaffer gab: “a Ball“:“A Ent mit Bulwis, Jauch und Schwarzbier.“ Diese jiddisch-deutschen Worte bedeuten: Der Schaffer gab eine Gesellschaft, einen Entenbraten mit Kartoffeln, Tunke und englischem Porter. Jiddisch-deutsch sprechen die fünf Millionen in Rußland wohnenden Juden. Viele Bücher und Tageszeitungen erscheinen in jiddischer Sprache, die für uns Deutsche nach kurzem Aufenthalt verständlich und leicht erlernbar ist. Wenn die Hölzer verkauft waren, übernahm sie der Spediteur für Rechnung des betreffenden Kaufmanns, maß sie aus und erteilte dem Verkäufer eine spezifizierte Empfangsbescheinigung, „Consignation“, auf die hin er in Memel die Bezahlung erhielt. Der Spediteur ließ dann die Triften in Flöße umarbeiten und sandte sie je nach Bedarf nach Memel ab.
Die in Ruß wohnenden jüdischen Schneidemühlenbesitzer, Kaufleute, Holzmakler, Gasthofbesitzer und Händler führten ein musterhaftes Familienleben. Sie unterhielten ein Bethaus und Frauenbad, unterstützt durch ihre russischen Glaubensgenossen, die im Sommer als Holzhändler dorthin kamen. Als beste Patienten hielten sie sich an die ärztlichen Vorschriften und trieben keine Kurpfuschereien. Sie waren wohltätig gegen Juden und Christen. Für arme, jüdische Mädchen legten sie die Aussteuer zur Hochzeit zusammen. Ein Makler, der als Kochjunge barfuß auf einer Trift nach Ruß kam und durch Tüchtigkeit und Fleiß reich geworden war, fragte in Memel seinen alten Freund: “Nathan, warum heiraten Deine Töchter nicht?“ Auf die Antwort: “Das weißt Du ja,“ legte er 30 000 Mark auf den Tisch. „Gib jeder die Hälfte.“ Nach drei Monaten waren beide glückliche Frauen.
Viele Juden gehörten unseren Vereinen an, doch konnten sie an unseren Festessen nicht teilnehmen, da sie streng orthodox lebten und durch Nichtachtung der Speisegebote bei ihren russischen Glaubensgenossen in Mißachtung geraten wären. Ich habe oft jüdische Festlichkeiten mitgemacht, bei denen die älteren Männer schwarz- und weißgestreifte Thoramäntel und Kopfbedeckungen trugen. Der Kultusbeamte begrüßte nach dem Gebet einzeln die anwesenden Gäste. Die Trauungen fanden unter freiem Himmel oder in winterlicher Zeit im Zimmer unter einem Thronhimmel statt. Der von vier jungen Leuten gehalten wurde.

Auszug aus: Arthur Kittel, 37 Jahre Landarzt in Preußisch-Littauen 1869-1906, Königsberg 1921

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